Kundenrezension für "Sturmschaden" auf amazon.de

Kritik

Kundenrezension von "Ein falscher Freund / In Erwartung" auf amazon.de

Rezension Kraut & Rüben

Kraut und Rüben - Kurzgeschichten von Rainer Bressler

 

 

 

Vom leidenschaftlichen Schreiben

 

 

 

Rainer Bressler legt uns in diesem Band Kurzgeschichten aus 63 Jahren vor. Diese handeln von Freuden und Leiden der Partnerbeziehung, von Auseinandersetzungen im Freundeskreis, von der Einstellung zur Gesellschaft und ihren Entwicklungen, aber auch vom Rückzug auf sich selbst. Und immer spielt das leidenschaftliche Schreiben, überhaupt die Existenz des Schriftstellers, eine Rolle.

 

 

 

Die Geschichten sind chronologisch geordnet. Sie zeigen die Entwicklung von den Anfängen bis zu den Werken des geübten, sprachgewandten Schreibers. Wir treffen darin die uns vom Autor bekannte Freude an  Textexperimenten, die beiläufig eingestreuten Zeugnisse seiner breiten Bildung und nicht zuletzt seine Kunst der Satire.

 

 

 

Die Texte werden aufgelockert durch Skizzen, Collagen und Fotos des Autors – schon für sich genommen kleine Meisterwerke.

 

 

 

2. September 2020 Andreas Pritzker

 

Rezension Schattenkämpfe

Schattenkämpfe - Roman von Rainer Bressler

 

 

 

Rainer Bressler beschreibt in seinem spannenden Roman eine ungewöhnliche Sohn-Vater-Beziehung, hinterlegt mit gut erfasster Zeitgeschichte und mit vielen Bezügen zum Kanton Aargau.

 

 

 

Schattenkampf bedeutet der Kampf mit einem imaginären Gegner. Der Titel ist passend gewählt, denn tatsächlich haben die beschriebenen Kämpfe, auch wenn sie sich in der realen Welt äussern, ihre Ursachen in den Vorstellungen der Protagonisten.

 

 

 

Im ersten Teil des Romans entfaltet sich die Geschichte des Vaters. Er wird in den 1930er Jahren wegen seiner Herkunft zur Emigration aus Deutschland gezwungen, kann aber zum Glück sein Studium in der Schweiz vollenden. Danach bekommt er in der Klinik Königsfelden eine Stelle als Psychiater. Hier findet er seine Liebe und wird von einer  grossbürgerlichen, liberalen Familie im ländlichen Aargau willkommen geheissen. Doch ist seine Existenz wegen seiner Stellung als Flüchtling lange ungesichert, und zudem muss er machtlos zusehen, wie die Angehörigen seiner Familie in Deutschland von den Nazis ermordet werden. Da er sich weiterhin als Deutscher fühlt, weil der Vorstellung des Landes der Dichter und Denker verbunden, wird er vom schweizerischen Umfeld oft mit Misstrauen betrachtet. Gleichzeitig macht ihn seine kulturelle Beschlagenheit attraktiv. Hochgebildet und gewandt im Ausdruck wird er bewundert und geachtet. Er ist umgänglich, ja charmant und daher beliebt. Dies alles führt unweigerlich zu einer Zerrissenheit, die er kaum je nach aussen dringen lässt. In existenziellen Fragen bleibt der sonst offene Typ verschlossen.

 

 

 

Dann wird 1945 sein Sohn geboren. Es bahnt sich der Konflikt an. Der Vater vermag es nicht, den heranwachsenden Sohn als Mensch mit eigener Persönlichkeit anzunehmen. Er sieht ihn in erster Linie in der Funktion des Stammhalters, an den er Ansprüche stellt, die auf einem preussischen Männlichkeitsideal basieren. Gefühle werden als weibisch abgetan, der Knabe soll sportlich sein. Der Sohn entspricht in keiner Weise den Erwartungen des Vaters. Er entpuppt sich als vielseitig talentiert und beschliesst früh, Schriftsteller zu werden. Ironie dabei: die beiden sind sich in vielem ähnlich. Der Vater ist mit Gutachten und anderen Texten schriftstellerisch tätig. Und der Sohn ist so bildungs- und kulturhungrig wie der Vater, und wie dieser gewandt in der sprachlichen Formulierung, umgänglich, charmant und daher beliebt.

 

 

 

Die Beziehung zwischen den beiden entwickelt sich zu einem andauernden Schattenkampf. Der Vater begegnet seinem – aus seiner Sicht missratenen – Sohn allzu oft mit Kritik und Tadel. Er nimmt ihn häufig nicht ernst, sondern behandelt ihn mit einer herablassenden Ironie, welche jegliche Zuneigung tötet. Er mag sich übrigens damit gerechtfertigt haben, dass er sich seinerzeit als Sohn den Wünschen seines Vaters gefügt hatte. Der Sohn seinerseits rebelliert, weicht dem Streit nicht aus, aber gestaltet sein Leben soweit wie möglich unabhängig vom Vater, den er hasst.

 

 

 

Dennoch bahnt sich vor und besonders nach dem Tod des Vaters eine Versöhnung an. Als sich der Sohn beruflich bewährt und erste Erfolge als Hörspielautor verzeichnet, beginnt der Vater, ihn zu respektieren. Dann stirbt der Vater. Die Annäherung an den Vater geschieht beim Sohn, als er die Familiengeschichte aufarbeitet. Der eigentliche Schlüssel zur Versöhnung ist vermutlich der Umstand, dass der Sohn sich dem Streit mit dem Vater stellte, statt sich leidend unterzuordnen.

 

 

 

Der Roman enthält einige bemerkenswerte literarische Eigenheiten. Der Autor ist geübt im Schreiben und wagt Experimente. So finden sich im Text immer wieder prägnante Helvetismen, welche der Autor phonetisch kennzeichnet und sie gekonnt übersetzt, so dass der Text auch für Nichtschweizer lesbar ist. Geradezu genial ist die dramatische Wendung von der Er-Form zur Du-Form des Selbstgesprächs gegen Ende des Buches.

 

 

 

Für Aargauer bietet der Roman zudem ein vertrautes Stück Zeitgeschichte. Die Lektüre ist höchst befriedigend und zu empfehlen.

 

 

30. August 2020 Andreas Pritzker

Rezension Pink Champagne

Pink Champagne – Roman von Rainer Bressler

 

Alles perlt, sprudelt, überschäumt in dieser leichtfüssigen, eleganten Liebesgeschichte von Rainer Bressler. Die Protagonisten kommen zusammen, trennen sich wieder, lassen sich davon überzeugen, dass die Liebe vorbei ist oder sie unbedingt weiter gelebt werden muss – je nach Aussagen von Freunden oder Bekannten, je nach Stimmung, je nachdem, ob irgendwo eine Flasche Rosé Champagner zu ergattern ist. Ironie und Satire haben ihren Platz, insbesondere auch in den Beschreibungen und Namen der gesellschaftlichen Umgebung des Liebespaars; manchmal scheint nichts ernsthaft zu sein, und doch wird man unvermutet wieder in tiefe Abgründe gezogen. Die Phantasie des Autors überbordet hie und da, sowohl sprachlich wie auch im Ablauf der Geschichte, was aber das Lesevergnügen keinesfalls schmälert. Eine höchst gelungene Hommage an die geliebte Lady.

 

28. August 2020 Ursula Reist

 

Privatzeug 1856 bis 2012. Spur 4 Dichten
2014

«mit einer kribbeligen Lesefreude, mit einer Spannung, mehr über ‹Ariels Verhältnis zu Vati› zu erfahren, habe ich grad – so ziemlich in one go – die ‹GÄRUNG› und Umgebendes gelesen. Immer mit dem Versuch, wie versprochen, den Text mit den Augen eines Unbedarften, eines Lesers zu lesen, der den Autor nicht persönlich kennt. Dies Vorhaben ist mir allerdings nur satz-, manchmal absatzweise gelungen: immer wieder scheint mir das Autor-Autobiographische auf hinter Ariel (ganz handfest übrigens bei der Sentenz: ‹A. liebt Bratwurst an Zwiebelsosse mit Rösti›); hinter Leo; hinter dem ‹schwierigen Vater-/ Sohnverhältnis bei Blums›; überhaupt hinter dem Agieren der, wenn ich richtig zähle, drei Generationen; hinter Mellner und dem Pfuusbus-Pfarrer; besonders natürlich hinter der Sache mit dem ‹blauen Sichtmäppchen› und seinem Inhalt – ein überaus gelungener Dreh- und Angelpunkt zwischen dem Fiktiven und dem Faktischen des Romans! (I hit the LIKE-button several times!)

‹Vati / Grossvati› hat – so heisst es ja – ‹geschwiegen, nicht darüber geredet›, hat aber ‹alles aufgeschrieben›, hat ‹kein Geheimnis daraus gemacht›? Worüber? Was? Woraus? Dass er ein Kind dieser Nachweltkriegsjahre, der politisch-weltanschaulichen Stimmungen dieser Weimarer Zeit war, das ist in der Tat in seinen Gedichten deutlich auszumachen. Mit welchen Gefühlen aber, mit welchen Motiven, mit welchen (Hinter-)Gedanken tritt er in den ‹Stahlhelm› ein? In diesen, wie Historiker schreiben, ‹urban-preußisch-protestantisch-antisemitisch(sic!)-nationalistisch-antidemokratisch-konservativ-monarchistisch-völkisch-verbohrt-nationalistischen Bund der Frontsoldaten›? Was sucht und findet (‹Ich gehörte dem Stahlhelmstudentenring mit Leib und Seele an.›) ein 20jähriger Student in Breslau in einem solchen Männer-Verein? Die ‹Anerkennung als deutscher Student›?! Wenn’s das wäre: selbst das bleibt ihm 1934 ja schmählich versagt ...

Auf solche Weise durch das blaue Sichtmäppchen angeregt, bin ich grad dabei, mich intensiver mit dem ‹Stahlhelm› zu beschäftigen, vor allem mit seiner eigenen Darstellung nach aussen, mit seiner Propaganda, mit seinen Bemühungen, Mitglieder zu werben, also auch den Jung-Studenten in Breslau.

‹Familienromane sind eine vertrackte Angelegenheit.› (Mellner)

‹Only too right, they can get you to follow old tracks to find out where these tracks come from and where they lead to.› (F.)»

 

C.F.; LeserInnen-Kommentar, 15. Oktober 2014

«Wieder ein Wurf. Ein toller Konstrukt zum Thema ‹Gärung› = Rebellion der jungen Generation. Die Verbindung zur Familienarchäologie wird gegeben durch den Titel ‹Dichten› und die Gedichte des Vaters sowie durch den Einbau der elterlichen Geschichte in den Text. Zum Thema passen das eigene Hörspiel ‹Aufruhr in Zürich› sowie der Text des Vaters zu den Gedichten der Verweigerung.

Die Spannung zwischen den Generationen wird in der heutigen, vom Wohlstand gezeichneten bürgerlichen Schweiz mit überzeugend und realistisch gezeichneten Figuren dargestellt. Versöhnlich wird sie durch das Bewusstsein der familiären Kontinuität. Eingewoben sind das soziale Verhalten unserer Gesellschaft (Obdachlosenpfarrer, Sans Papiers) sowie die mit dem Aufstand verbundene Kunst (Rap, Graffiti). Trouvaillen sind die feinen Anspielungen dazu: ‹Rebels Without A Cause› erscheint wieder in den ‹Rebellen mit Grund›, ‹Generation Wild› im (so nehme ich an) Autor ‹Gen Wil›.

Durch die Gestaltung in verschiedenen Teilen – mit grösseren Einschüben von Fremdtext und den Zitaten – wird der Text so verfremdet, dass er sich nicht einfach als unterhaltend hineinziehen lässt. Und das ist notwendig, denn die Gefahr besteht wegen der zwar sehr reichen und präzisen, aber gleichzeitig gut lesbaren Sprache. Toller Dreh: man stösst auf das Zitat und hält inne mit der Frage, weshalbt es hier steht. Gelungen ist auch die Wahrnehmung/Erzählung bestimmter Szenen durch verschiedene Personen.

Nicht nur Amanda Pfau, sondern auch der Autor weiss, wie die Welt verschraubt ist. Seine Figuren vertreten (erklärt durch ihren persönlichen Werdegang) alle möglichen Haltungen, wobei der Autor sich mit demonstrativer Stellungnahme zurückhält, was auch Mellners Einstellung entspricht.

Besonders faszinierend für mich das Thema der Zugehörigkeit. Muster hierzu liefert der Zeitgeist, im 20. Jh sowohl Nationalismus (überschwappend aus dem 19. Jh) als auch Internationalismus (sprich Kommunismus). 

In den 1930er Jahren verstand sich HG als lupenreiner, nationalistisch eingestellter Deutscher, trat sogar dem ‹Stahlhelm› bei. Das kann ich mir von der Familiengeschichte her erklären. Die Abwendung vom Judentum war bestimmt eine Emanzipation. Der deutsche Kulturraum wurde als Heimat gewählt. Man fühlte sich ihm total verbunden. Nach der schockierenden Ablehnung durch das Dritte Reich fand HG zumindest bei den Freimaurern einen Hafen. Anders als andere Migranten wurde er, soweit ich erkennen kann, nicht zum schweizerischen Patrioten. Das macht Sinn. Und irgendwie fühlte er sich auch den rebellierenden Dichtern zugehörig. Von Autoritäten nahm er somit Distanz.

Faszinierend die Zugehörigkeit bei der Rebellion. Man will nicht zum Establishment gehören und rebelliert. Der Haken dabei ist, dass man bei Gleichgesinnten eine neue Zugehörigkeit findet (und das geht nicht ohne die internen Machtstrukturen), und dass sich solche Bewegungen halt auch etablieren, und plötzlich unterscheidet man sich nur in den offiziellen Meinungen, nicht aber bezüglich der Strukturen vom Establishment, gegen das man gekämpf hat. Verschiedenen Figuren im Text sind diese Widersprüche bewusst.

Der Einbau des genialen (sprachlich und konzeptionell gesehen) Hörspiels ist total gelungen, ebenso die wertvolle Abhandlung von HG über die rebellischen Dichter. Zum Konzept dieser Spur gehören die Gedichte von HG, die für mich von Sprachbegabung zeugen. Der Inhalt ist mir zwar eher fremd, aber die Bilder scheinen mir gelungen, und die Gedichte unterscheiden sich wenig von ‹klassischen› Sammlungen, die uns zur Schulzeit präsentiert wurden.»

 

A.P.; LeserInnen-Kommentar, 14. Oktober 2014

Privatzeug 1856 bis 2012. Spur 3 Schreiben
2013

«Das Schreiben gehört zur Familie, und ihm verdankt der Autor auch, dass er über ein reichhaltiges privates Material verfügen kann. Das Führen eines Tagebuchs spielt im ganzen Text eine Rolle, und mit dem Tagebuch von Minna H., das in den Text eingebaut ist, wird uns ein wunderbares Zeitzeugnis vermittelt. Eine intelligente junge Frau mit freier Denkweise und von Konventionen noch nicht getrübtem Blick schildert uns ihre Entwicklung in einer jüdischen Familie in Ostdeutschland um 1870. Eindrücklich das Schicksal der unverheirateten Tochter, die keinen Beruf erlernen durfte und somit ein gutes Dasein nur in einer Ehe – oder aufgrund von Familienreichtum – verwirklichen könnte, was der Schreiberin aber verwehrt bleibt.

Ein Tagebuch führt man in der Regel (ausser man ist schon eine prominente Person wie Max Frisch) für den Eigengebrauch und die allfälligen Nachkommen, es ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Was nun, wenn es dennoch veröffentlicht wird? Für die Nachwelt sind die Beobachtungen von Minna H. ein wertvolles Zeitzeugnis, und aus dem Abstand wird Intimes – da oft von Konventionen der damaligen Zeit bedingt – generalisiert. Schwieriger hingegen ist es für Krapotke, die entdecken muss, dass ihr Bruder ihr Tagebuch geklaut und veröffentlicht hat. Die Buchhändlerin vergleicht es allerdings mit der Fiktion, findet es gar lebensnaher ( und greift damit das Thema auf, inwiefern Autoren beim Schreiben ihre Biografie nutzen). Mit dem Satz ‹sehr persönliche Gedanken eines jungen Mädchens ...› (S. 204) wird das Tagebuch wieder generalisiert und ist nicht mehr nur auf die Schreiberin bezogen. Der Autor spricht das Verhältnis Schreiben-Biografie-Öffentlichkeit auch im Klappentext an (den ich, wie ich mit Genugtuung feststellte, erst las, nachdem ich dies geschrieben hatte). Es ist ein fesselndes Thema, das zum Schreiben gehört, und es wird in Spur 3 gescheit vermittelt. 

Eine wichtige Rolle spielen in den Spuren die Namen. Sie haben vermutlich eine konzeptionelle Bedeutung. Dieser Gedanke kommt einem, wenn auf S. 316 Beat (glückselig) plötzlich zwischendurch zu Felix (glücklich-erfolgreich) wird ... Dass Tiefenbacher als Pseudonym ‹Natascha Wummer› wählt, macht Freude, denn der Text ist wirklich eine Bombe, mit kräftiger Sprache, prägnanten Aussagen ohne Schnickschnack, mit Zug darin, der LeserIn einfach mitreisst. Dasselbe gilt für den Text von Kess Frank, wobei Kess zwar vom Familiennamen kommt, aber ‹kess› zum Text passt: schneidig, flott. Er ist gespickt mit köstlichen Wendungen (‹Huhn von Anstand und besten Manieren› usw.), und die Namen sind hohe Kunst (und zudem von praktischem Wert, da man sie sich trotz grossem Personalbestand gut merken kann). Ebenfalls hohe Kunst ist das Satirische, das sich LeserIn genüsslich auf der Zunge vergehen lässt.

Toll, wie die Texte verwoben sind. Wummers Text gibt die Rahmenhandlung, in der Krapotke sowohl das Tagebuch der Minna H. als auch das Buch ‹Pink Champagne› entdeckt.

Schön, dass dieser Text veröffentlicht wurde! Mir hat er nachhaltiges Lesevergnügen bereitet.»

 

A.P.; LeserInnen-Kommentar, 16. Oktober 2014

Privatzeug 1856 bis 2012. Spur 2 Spielen
2013

«Die Verbindung von Dokumentation und Fiktion ist Dir geglückt. Herausgekommen ist eine gekonnte Darstellung, wie Geschichte wirksam wird bei einem Individuum. Man könnte den Inhalt der Dokumente auch beschreiben, aber indem Du die Original-Dokumente wiedergiebst, gewinnt der Text an Aussagekraft.

Besonders auffällig am Beispiel von HG ist, wie ihm die Geschichte die Wahlmöglichkeiten des Individuums wegnimmt. Einerseits schränkt sie ihn durch diskriminierende Gesetze ein (Reisetätigkeit, Aufenthaltsbewilligung usw.), anderseits zwingt sie ihn in Rollen, die er gar nicht wahrnehmen will und gegen die er – oft vergeblich – ankämpft. Sie zwingt ihn auch zu Aufgaben, die er der Umstände halber ausführt. Das alles führt zu einem nicht geringen Stress, notabene neben der Arbeit und der Bewältigung des Alltags.

Zu den Rollen: Das fing schon im Elternhaus an, als er Medizin studierte statt Geschichte (hier immerhin der Trost, dass er Geschichte bezeugt hat und diese von Dir noch vertieft wurde). Das ging in der Emigration weiter, indem er als Träger einer wertvollen deutschen Kultur als Deutscher angefeindet wurde, wobei die Situation nachvollziehbar dargestellt ist: die Ursache der Anfeindungen waren Rivalitäten, Eifersucht und Ängste. Dabei vertrat er eine Kultur, die ja offensichtlich mit den Nazis kaum etwas gemeinsam hatte. So haben es auch andere emigrierte Juden erlebt: Von Deutschland nicht mehr als zugehörig anerkannt, vom Ausland als Deutscher abgestempelt (in einem mir bekannten Fall half es einem österreichischen Emigranten dank seines Passes auf den Philippinen zum Überleben – ‹für die Japaner war i a Verbündeter›). Dann weiter: HG musste sich schliesslich als Jude bekennen, obschon er sich nicht als Jude fühlte. Er gab zwar die komplexen Umstände bekannt, aber das verhinderte nicht, dass er nun als Jude abgestempelt wurde (herrliche Aussage: ‹plötzlich wollen alle Juden sein›).

Zu den Aufgaben: Er musste die Funktion einer Info-Drehscheibe für die Familie übernehmen, weil er in der neutralen Schweiz lebte. Das spielte sich bei Marthis Familie, besonders bei ihrer Grossmutter Mittler, ähnlich ab. Diese Funktion war arbeitsaufwendig und teuer. Im weiteren fungierte HG auch als eine Art Ankerplatz für die zunehmend entwurzelten Eltern. Das war belastend, und er konnte nichts tun gegen diese Demontage ausser fleissig korrespondieren, um die Eltern an seinem Leben teilhaben zu lassen und ihnen schliesslich Lebensmittel zu schicken. Wirksame Aktionen waren jedoch nicht möglich – er musste sich wie gelähmt vorkommen.

Nachvollziehbar aufgrund der Briefe ist auch, dass er sich von seiner Mutter manchmal bedrängt fühlt. In Friedenszeiten wäre eine entsprechende Auseinandersetzung möglich gewesen. Mit einem NS-Opfer ist die Auseinandersetzung praktisch unmöglich. 

Die Geschichte hat viele tröstliche Aspekte: 

- Dass es HG gelingt, neben dem ganzen Stress zu versuchen, einigermassen als Normalmensch zu leben. Er baut Beziehungen auf, kauft sich etwas Schönes, treibt Sport und geniesst Kultur.

- Dass seine Braut und deren Familie zu ihm stehen (das war bei meinem Vater und der Familie meiner Mutter in Arth genau so), obschon sie deswegen angefeindet werden. Das waren halt einfach integre Persönlichkeiten, wie man sie zum Glück immer wieder findet.

- Dass HG schliesslich in seinem Umfeld ‹ankommt› und als Kollege akzeptiert wird.»

 

A.P.; LeserInnen-Kommentar, 31. Januar 2014

Privatzeug 1856 bis 2012. Spur 1 Reisen
2013

«An der Person des Kess Frank hat mich seine Ungebundenheit und seine Lust, die Welt zu erfahren und daraus Schlüsse für sich selbst abzuleiten, stark angesprochen; auch seine Kunst der Wahrnehmung, die ungeschminkte Darstellung neben den Tagträumen sowie die ehrlichen Reaktionen. Fein auch, wie er die Ohnmacht erfährt (welche die Erzählenden im Dokumentarteil noch viel schlimmer erfahren) und was er dagegen oder darin unternimmt. Dann fühlte ich mich von Deiner einzigartigen Bildung in Belangen Literatur/Kultur/Geschichte ebenso fasziniert wie von Deinem offensichtlichen Wissen, wie die Gesellschaft tickt. Der ‹Wirkungskreis› ist ein herrliches Stück Schweizer Satire. Und nicht zuletzt habe ich, glaube ich, durch den Text einen Weltbürger mit Schweizer Verankerung kennen gelernt.

 

Der Dokumentarteil ist mir ebenfalls wertvoll. Vieles von den Vorgängen ist mir vertraut, weil ich die ‹estörte Bürgerlichkeit› meiner 1998 verstorbenen Ehefrau, der Historikerin Marthi Pritzker-Ehrlich, nach ihrem Tod herausgegeben habe. Die stetig auf die Vernichtung der Juden hin steuernden Aktionen der Nazis finde ich in Deinem Text meisterhaft dokumentiert. …»

 

A.P.; LeserInnen-Kommentar, 18. August 2013

Geliebter / Geliebte
1989

«Bleibt Bressler, ein Aussenseiter, ein vergnügter Spieler. Geliebter/Geliebte erzählt von Vita Sackeville-West und Harold, von Violet und Denys. Wer käme auf die Idee, bei Schweizer Autoren Eleganz zu suchen? Bressler entwickelt unglaubliche Suada - seine Violet lacht, erinnert vergnügt an das alte Spiel, das sie gespielt haben als Kinder - Geliebter/Geliebte - ohne zu wissen, was es ist - heute wissen sie es und heute wäre es wieder reizvoll. Bressler erzählt mit hauchfeiner Erotik, das ist wie Anouilh, das alte Verwechselspiel, du bist Orlando, nein Mortimer, nein Harold, nein Vita, da ist Temperament und Leidenschaft und Vitatlität und Leichtsinn – verwöhnt, kultiviert und komisch.

 

Das ist durchaus witzig, es ist schnell, es kriegt ein paar Probleme hart in den Griff, es hat ein sportives Element. Und, nicht zuletzt, einen gewissen Haut goût.

 

Irgendwie mag ich das!»

 

Reinhardt Stumm, Einleitung/Querschnitte, Seiten 16–17, in «Ach & Och. Das Schweizer Hörspielbuch», Haffmans Verlag 1998

Sinnliches Hörvergnügen aus den «Roaring Twenties»

   «Eine ‹charmante Verführerin› und eine ‹neugierige Geniesserin›, ein form- und standesbewusster Offizier sowie ein ‹Neuer Mann› sind die Personen eines mit gutem psychologischem Gespür gestalteten Hörspiels, das heute erstmals ausgestrahlt wird.

   Zwei Engländerinnen in Paris proben den Aufstand gegen Konventionen und traditionelle Moralvorstellungen. Ungestüm sind sie auf- und ausgebrochen aus der besten englischen Gesellschaft. Paris ist Zwischenstation, Griechenland ihr eigentliches Ziel. In Arkadien wollen sie ihre Vorstellungen vom Zusammenleben und sich selbst verwirklichen. Auf den zweiten Blick zeigt sich, wie verschieden Violet (Susanne Tremper) – sensibel und überspannt – und Vita (Eva Scheurer) – lebenstüchtig und selbstbewusst – sind: ‹zwei Welten, die sich nicht berühren›. Bereits ziehen Gewitterwolken am strahlend blauen Himmel auf.

   Die Ehemanner sind den ‹flüchtigen Wildkatzen› dicht auf den Fersen, um sie zur Raison zu bringen. Auch die Männer bilden ein ungleiches Paar, eine Art Zwangsverwandtschaft zwischen Denys (Rainer Zur Linde), dem knochensteifen englischen Offizier und Verfechter von Law and Order, und Harold (Klaus Henner Russius), dem menschlichen Antihelden und Vertreter des ‹Neuen Mannes›.

   Das Hörspiel ‹Geliebter / Geliebte› beruht auf einem authentischen Skandal. 1919 flohen die aus der englischen Aristokratie stammenden Schriftstellerinnen Vita Sackville-West und Violet Trefusis nach Paris. Virginia Woolf, die beide persönlich kannte, verarbeitete ihre Geschichte im Roman ‹Orlando›.

   Das Stück hat drei Szenen, chronologisch zuerst das weibliche Paar, darauf das männliche, und in der Schlussszene wird gemischtes Doppel gespielt. Am Ende bleibt das eine Paar im Exil, den formvollendeten Schein wahrend, das andere führt die alte Beziehung weiter, aber unter neuen Voraussetzungen.

   Es ist ein sprachgewandtes Spiel, amüsant, spleenig, mit feiner Ironie und gelegentlich komischem Beziehungsgeplänkel, hintergründig und sogar – ein grosses Wort – ein bisschen tragisch. ‹Unsere Expedition ist gescheitert›, sagt Violet. Sie, die Verführerin, ist die Verliererin. Psychologisch einfühlsame Dialoge enthüllen eine verblüffende Kongruenz der Paare – Violet bekommt Migräne, Denys hat Kopfschmerzen, es gibt eben Dinge, von denen man nicht spricht.

   ‹Geliebter / Geliebte› ist in der Regie von Walter Baumgartner ein sinnliches Hörvergnügen. Cole Porter-Melodien, es rauscht, als spielte sie ein alter Grammophonapparat mit Riesentrichter, vermitteln die Atmosphäre der Roaring Twenties.»

 

Kathrin Straub; LNN Luzerner Neueste Nachrichten, 12. Mai 1990, Der Bund, Bern, 12. Mai 1990

Aufruhr in Zürich
1986

«Schauplatz dieser Auftragsarbeit ist die Stadt Zürich. Sie handelt von einem Menschen und von einer Stadt, die sich beide letztlich behaupten. Eine erfundene Geschichte aus den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts, ein Märchen mit wahrem Kern. Radio DRS 2 bringt es unter Walter Baumgartners Leitung am Dienstag, den 18. März, um 20.15 Uhr und am Samstag, den 22. März um 10.00 Uhr.

   Rainer Bressler, der Zürcher Autor und Jurist, wählte als sehr frei gehandhabte Form den Prozess. Wir hören ein Vorspiel samt Prolog, zum Teil in Versform, gefolgt von einem imaginären Prozess mit Klage, Klage-Antwort, Replik, Duplik, mit einem Nachspiel und einem Epilog. In den als Prozessteile bezeichneten Szenen finden Gespräche statt, zumeist zwischen der Hauptperson Johann Heinrich Füssli (André Jung) und seinem Gegenspieler Escher (Thomas Stuckenschmidt).

   Ein Weibsbild bringt eine kleine Welt durcheinander: es ist Phoebe Zeitgeist (Eva Scheurer), die in Menschengestalt erscheint, ‹ein Traum von einer Frau — Traum eines jeden Mannes›. Begehrt wird sie sowohl von Escher, einem Mann von Welt, als auch vom jungen Theologen Füssli. Ihren Streit soll ein imaginärer Prozess entscheiden. Als Richter wird kein Geringerer herbeizitiert als Johann Wolfgang von Goethe aus Weimar (Horst Warning). Zusammen mit Phoebe Zeitgeist kommentiert, kritisiert, glossiert er das Geschehen. Zwei Verlaufssträhnen werden nebeneinander vorangetrieben: Einerseits das Streitgesprach um Phoebe (‹die Strahlende›), anderseits werden die Stationen aufgezeigt, die zum Aufruhr gegen den unbeliebten Landvogt Grebel führten.

   Die jungen Leute langweilen Goethe, da sie nicht bei dem ihn einzig interessierenden Thema der Liebe zu der verführerischen Schönen bleiben: ‹Grünschnäbel alle beide›; keiner bekommt sie. ‹Warum dann aber der Prozess?› Phoebes lachende Antwort: ‹Schall und Rauch!› Reine Imagination. Das Nachspiel hebt an in Prof. Bodmers (Erwin Parker) Stube: ‹Es soll alles seinen Lauf nehmen.› Es stellt sich heraus, dass sowohl Escher als auch Füssli ihre intime Begegnung mit Phoebe hatten, bevor diese der Stadt den Rücken kehrte. ‹So löst sich alles in Minne auf.›

   Escher, der Angepasste, der Diplomat. plant seine Zukunft. Sein Rat an Freund Füssli: Nie die Notwendigkeit der Machtigen in Frage stellen. ‹Bist du jünger als der Mächtige, arbeitet die Zeit für dich, und alles wird dir gehören.› Füssli jedoch, den freien Geist, beschäftigen die politischen und sozialen Zustande seiner Stadt, vor allem das wüste, das Volk aussaugende Treiben Grebels. Er sinnt auf Abhilfe. Zusammen mit seinem Freund Hess (Erwin Leimbacher) verfasst er ein anonymes Traktat, dem Erfolg beschieden: Grebel flieht, das Volk atmet auf. Doch die beiden jungen Freunde erwartet kein Dank: Sie werden von den Ratsherren ins Exil geschickt. Für Füssli, den später berühmten Maler (1741—1825) ein Glücksfall: Er verzichtet auf die Theologie, um fortan zu schreiben, zu zeichnen und zu malen. Historisch ist, dass er nie wieder in seine Vaterstadt zurückkehrte. Im Zürcher Kunsthaus, wo die Schlussszene, der Epilog 1986 stattfindet, bewundert eine Reisegruppe sein bekanntes Bild ‹Titania liebkos Zettel mit dem Eselskopf›... 

   Die Vorgänge, offensichtlich eine Parodie auf die Zürcher Jugendunruhen, als Märchen spielerisch dargeboten; mit Ironie, schöngeistigen, zum Teil pathetischen Reden, literarischen und politischen Anspielungen. Ein Stück Gesellschaftskritik, wenn schon verhalten aufgetischt.»

 

Heinz Appenzeller; Der Landbote, 15. März 1986 / LNN Luzerner Neueste Nachrichten, 18. März 1986 / NZN Neue Zücher Nachrichten, 21. März 1986

«Man liest den kurzen Hinweis in der Hörspielbroschüre von Radio DRS und ist – interessiert. ‹Erzählt wird›, heisst es da mit Bezug auf Rainer Bresslers Hörspiel ‹Aufruhr in Zürich›, ‹eine kleine Begebenheit aus dem Zürich von 1762: Der Zürcher Maler Johann Heinrich Füssli (1741 bis 1825) muss Zürich verlassen, weil er sich gegen den korrupten Landvogt von Grüningen, Grebel, zur Wehr setzt – dies, obwohl Grebel flieht und die Bevölkerung aufatmet. Füssli, der bis dahin Prediger war, geht ins Ausland und wird schliesslich Maler – ein berühmter Maler in London. Heute hängen (sic!) viele seiner Bilder im Kunsthaus Zürich.› Ein historischer Vorfall also, wohl nur den wenigsten geläufig, mit beträchtlichen Folgen für die Biographie seines wichtigsten Protagonisten, ein Paradebeispiel auch für das Verhältnis einer Stadt zu einem ihrer nachmals berühmt gewordenen Söhne – etwas in der Art zu hören zu bekommen, durfte man wohl gewärtigen.

   Nicht so bei Rainer Bressler. Ein ‹Sprecher› (Erwin Geisler) sagt zwar einleitend, dass es sich hier um ein ‹Märchen› handle ‹über einen Menschen, der sich – trotz allem – behauptet, und über eine Stadt, die sich – trotz allem – ebenfalls behauptet... Kurzum: eine zusammenfabulierte Geschichte um einen wahren Kern, produziert vermittels Wellen, die alles durch- und so bis zu Ihrem Ohr vordringen ...› Zusammenfabuliert. Wir mögen dem Autor nicht widersprechen, höchstens unser Bedauern darüber ausdrücken, dass ein so dankbarer Stoff derart zum blossen Wortgetändel ohne erkennbaren Sinn und Zweck verkommen musste. Davon, dass sich hier ein Mensch und eine Stadt ‹behaupteten›, ist nichts zu erkennen, und leere Behauptung bleibt auch die Ankündigung des Sprechers: ‹Wir werden der Geschichte den Prozess machen!› Die ‹Begründung› Phoebe Zeitgeists (Eva Scheurer): ‹weil Geschichte ein Prozess und jeder Prozess eine Geschichte ist›, klingt freilich nicht gerade verheissungsvoll.

   Als ‹imaginären Prozess› bezeichnet Rainer Bressler seinen Text, ‹mit Klage, Klageantwort, Pause, Replik, Duplik und allem, was dazugehört›, gefolgt von einem ‹schönen Nachspiel und sogar von einem Epilog›. Diese Struktur bleibt jedoch weitgehend Fassadenwerk, ohne wirklich gliedernde, ordnende und erkenntnisbefördernde Funktion. Man könnte sich nun fragen, da der Prozess eigentlich im Jahr 1762 selbst angelegt scheint (letztlich bleibt das alles ebenso belang- wie folgenlos), weshalb der zu diesem Zeitpunkt 13jährige Goethe als ‹berühmter Jurist aus dem fernen Weimar› daran teilnimmt. Aber was soll's? Der Autor glaubt, sich exkulpiert zu haben von jeder Verpflichtung auf Wahrscheinlichkeit – auch im Unwahrscheinlichen – durch den praktischen Hinweis, sein Text ‹immer und überall spielend im Reiche der Phantasie, dort aber in Zürich angesiedelt›.

   Im Reich der Phantasie angesiedelt war bereits der 1981 ausgestrahlte Erstling des 1945 geborenen Rainer Bressler, ‹Tom Garner und Jamie Lester›, das ziemlich blutleere ‹Porträt einer unmöglichen Freundschaft› in einem vage bleibenden Nordamerika der Vergangenheit. Und vergangenen Zeiten anzugehören schienen die Personen von ‹Morgenkonzert› (1983) und ‹Folgen Sie mir, Madame!› (1985) beziehungsweise deren Dialoge. Während aber der ermüdend umständlich-gewählte Konversationston in letzterem immerhin eine Pointe freigibt, als sich herausstellt, dass die anmutig parlierenden Herrschaften Stadtstreicher zu sein belieben, scheint sich Bressler vor den Ansprüchen eines tatsächlichen und nicht nur imaginierten 18. Jahrhunderts nur noch mit der Voltige in eine sprachlich derbverderbte Gegenwart retten zu können. Denn sonst kann ihm leicht geschehen, was im Hörspiel der alte Bodmer (Erwin Parker) dem selbstgefälligen Escher (Thomas Stuckenschmidt) vorwirft: «Ihre Sentenzen schliessen meist mit einem Schnörkel, der Besitz anklingt.» (?) Misstrauisch stimmt auch, wenn Phoebe Zeitgeist – der Comic-Strip-Figur nachempfunden? – fordert: ‹Auditur (sic!) et altera pars !›

   Überflüssig zu sagen, dass Füssli (André Jung) ebenso blass bleibt wie alle Nebenfiguren? Weder er noch Felix Hess (Erwin Leimbacher) gewinnen Profil als Verfasser des Pamphlets ‹Der ungerechte Landvogt oder Klagen eines Patrioten›. Und von der Wirkung des jungen Predigers Füssli wird man sich jedenfalls keine Vorstellung machen können. Walter Baumgartner hat die Tändelei mit Sorgfalt im akustischen Detail inszeniert und lässt die Schauspieler im übrigen so geziert sprechen und agieren, wie es dem Text wohl angemessen ist, der als Beitrag zum Jubiläum ‹2000 Jahre Zürich› als Auftragsarbeit von Radio DRS entstand.»

 

Christoph Egger; NZZ Neue Zürcher Zeitung, 20. März 1986

Folgen sie mir, Madame!
1985

«Eine versponnene Geschichte hat sich Rainer Bressler da ausgedacht, und er bringt sie in seinem Hörspiel in einem bemerkenswerten Dialog: Madame und Monsieur treffen sich im Bierausschank eines Bahnhofs und kommen miteinander ins Gespräch. Nicht in irgendein Gespräch, sondern in stilvolles Gespräch, in dessen Verlauf es Monsieur gelingt, Madame von seiner Ehrbarkeit zu überzeugen. Das ist insofern nicht unwichtig, als Madame in unzähligen papierenen Tragtaschen Besitztümer mit sich herumschleppt, die durchwegs auch Stil haben. So ziehen die beiden dann los. Monsieur ist Madame mit den Tragtaschen, Madame ist Monsieur im Autogetümmel verkehrsreicher Plätze behilflich, so dass das Paar unversehrt in der teppichgedämpften Halle eines selbstverständlich auch stilvollen Hotels landet. Und stilvoll geht's da dann zunächst weiter, bis, ja bis das Stillose in der Figur des Geranten in die Geschichte einbricht. Ein Banause, dieser Gerant, aber er hat die Macht und die Mittel, sich durchzusetzen bzw. Madame und Monsieur polizeilich hinauszuwerfen. Allzu tief ist der Sturz freilich nicht. Madame und Monsieur verlieren ihren Stil auch im Ungemach nicht, ziehen sich elegant aus der Affäre. Happy End: ‹Happy End›? Diesfalls ein vulgärer Ausdruck. So gewöhnlich sind Madame und Monsieur ja nun wirklich nicht.

   In der gestelzt-erhabenen Sprachebene, in der sich Rainer Bresslers närrische Stadtstreicher-Figuren bewegen, hat das Stück Charme. Walter Baumgartner hat es hübsch «intoniert», mit viel akustischer Ambiance. Diese gibt dem Ganzen einen realistischen Anstrich, der zum überhöhten Kunst-Dialog (den Lola Müthel und Hans Caninenberg mit angemessener Grandezza durchspielen) in grotesk-witzigem Gegensatz steht.»

 

Ursula Kägi; züritip / Tasgesanzeiger, Zürich, vom 10. Mai 1985

«Mit ‹Folgen Sie mir, Madame› legte Autor und Jurist Rainer Bressler sein drittes Hörspiel vor (Regie: Walter Baumgartner). ‹Folgen Sie mir, Madame› ist, wie es sich für den Wonnemonat Mai geziemt, eine Liebesgeschichte, eine nicht alltägliche, eine verwirrende und faszinierende Liebesgeschichte - und noch mehr.

   ‹Eine akustische Kolportage mit Happyend› nennt der Autor seine Geschichte, die nicht bloss liebenswürdig-komödiantisch zu verstehen ist, sondern auf feine und hintergründige Art unser Verhalten gegenüber Aussenseitern aufdeckt, indem sie es karikiert. Doch der Reihe nach.

   Es beginnt in der ‹Bierquelle› im Hauptbahnhof. Da begegnen sich zwei kuriose Gestalten: eine mit acht Taschen beladene Dame und ein zerlumpter, aber vornehmer Herr. Beide sind schon sehr alt: Rosa stammt aus dem Rokoko, Wendel aus dem deutschen Empire. Sie wohnen im nahen Landesmuseum, wo sie sich während der Besuchszeiten hinter den Gardinen verborgen halten. Nun hat sie der Zufall zusammengeführt. Wendel gelingt es, mit Witz, Charme und Beredsamkeit die misstrauische Rose an sich zu fesseln. Zusammen machen sie sich auf in die Stadt und geraten mitten in den Verkehr. Da erregen die beiden Unzeitgemässen bald einmal Aufsehen, die Polizei wird alarmiert, nimmt die beiden mit. Aus Mitgefühl (‹Arme Teufel, nicht jeder hat das Glück, in senkrechte, bodenständige Verhältnisse hinein geboren zu werden›) und aus purer Bequemlichkeit lassen die Polizisten das seltsame Paar wieder laufen. Rose und Wendel kehren in ihre Gemächer im Landesmuseum zurück. Die Welt hat ihnen nichts anhaben können.

   Und für den Hörer ist es tröstlich und erfreulich, wie sich die beiden Alten zusammenraufen, sich in einer Zeit behaupten, in die sie eigentlich gar nicht gehören.

   Wie man es als Aussenseiter schafft, sich zu behaupten? Wendels ureigenes Rezept: ‹Der grösste Lebenskünstler muss irgendwo ein Gauner, wenn auch ein liebenswerter sein.›»  

 

jm; Badener Tagblatt, 18. Mai 1985

«Es beginnt in der ‹Bierquelle› des Hauptbahnhofs. Dort begegnen sich zwei kuriose, vertrackte Gestalten: ein alter Mann und eine alte Frau. Zwei Figuren, wie entsprungen aus einer anderen Epoche, einer anderen Zeit, einer anderen Gesellschaft. ‹Eine akustische Kolportage mit Happy End, aus unserer Zeit› so nennt der Autor, der in Zürich ansässige Jurist Rainer Bressler, seine skurrile Geschichte. Unter der Regie von Walter Baumgartner wird sie am Dienstag, dem 14. Mai um 20.15 Uhr und am Samstag, dem 18. Mai um 10.00 Uhr von Radio DRS 2 ausgestrahlt.

   Tatsächlich stammen Rose (Lola Müthel) und Wendel (Hans Caninenberg) aus den Gemächern des nahen Landesmuseums, wo sie sich während der Besuchszeiten hinter den Gardinen verborgen halten. Nun hat sie der Zufall zusammengeführt. Und dem alten Clochard gelingt es, mit Beredsamkeit, mit Witz und Charme die misstrauische Dame an sich zu fesseln und mit sich fort zu reissen. Draussen im Gewühl der Strassen aber droht die Gefährdung durch den modernen Verkehr. Und wenn man sich nicht ganz zeitgemäss verhält, sich nicht anzupassen weiss, so läuft man Gefahr, das Opfer der Polizei zu werden. Ein Anruf von irgendeiner Seite — in unserer Geschichte vom Chef de Service — genügt, und schon ist sie da. Doch in unserem Fall zeigen sich die beiden Polizisten sehr menschlich: ‹Arme Teufel; nicht jeder hat das Glück. in senkrechte, bodenständige Verhältnisse hineingeboren zu werden.› Sie verzichten darauf, den Inhalt der acht Taschen der sonderbaren Alten zu durchsuchen, so dass es Rose sowie Wendel gelingt, sich in ihre rettenden kurfürstlichen — kammerherrlichen Gemächer zurückzuziehen.

   Eine Geschichte, gewoben aus jenem Stoff, aus dem die Träume gefertigt sind. Dem Ablauf der Handlung, der gewählt-gezierten Sprache, eignet etwas Operettenhaftes an, etwas Gespielt-Verspieltes. Wendel befleissigt sich eines höflich-ironischen Tones, einer eleganten Ausdrucksweise, während Rose sich vorwiegend in aggressiv-ironischen, stellenweise sogar etwas ordinären Sprache ergeht. Wendel hat sich seine eigene Philosophie zurechtgelegt, wohl um in dieser materialistischen Welt ohne inneren Schaden davonzukommen. Allerdings: Bei seiner Eloquenz, seinem versierten Gehaben glaubt man ihm den Clochard nicht ohne weiteres. Man kann das etwa 50 Minuten dauernde Hörspiel — es ist das dritte des Autors - einfach als liebenswürdige Komödie betrachten. als ein Stück Romantik; immerhin ist die darin enthaltene Gesellschaftskritik nicht zu verkennen. Die beiden Alten versuchen auf ihre Weise mit den Härten des Alltags fertig zu werden: Sie erfreuen sich an Kleinigkeiten, philosophieren mit Amadeus (Thomas Lang), dem Kellner, über den Sinn des Lebens. Er, der fröhliche Junge, zeigt für sie viel Verständnis. Er begreift, dass die Umwelt diese beiden harmlosen Alten nach dem Schein beurteilt, und nicht nach dem Sein, nach dem Herzen. Rose, die Wendel für einen Gauner gehalten, muss am Ende doch zugeben, dass er in Wirklichkeit ‹der letzte Gentleman› ist. Der Dichter aber gibt dem Hörer zu bedenken: ‹Der grösste Lebenskünstler muss irgendwo ein Gauner, wenn auch ein liebenswerter sein.›» 

 

Heinz Appenzeller; Der Landbote, 3. Mai 1985 / LNN Luzerner Neuste Nachrichten, 15. Mai 1985 / Solothurner AZ, 14. Mai 1985

Morgenkonzert
1983

«Der 1945 in Windisch geborene Jurist und Autor des in seiner klassischen Klarheit und Strenge der Formgebung an die antike griechische Tragödie gemahnenden vor zwei Jahren ausgestrahlten Hördramas ‹Tom Garner und Jamie Lester› wartet am Donnerstag, 24. März, um 16.05 Uhr, und am Dienstag, 29. März, um 19.30 Uhr (jeweils DRS 1) mit einem weiteren hördramatischen Werk auf: mit der Komödie ‹Morgenkonzert›.

   Eine Komödie im eigentlichen, im umgreifenden Sinne, im Sinne einer Spiegelung menschlichen Daseins, einer conditio humana, im Sinne von Dantes Divina Commedia, von Balzacs ‹Comédie humaine›. Eine surrealistische Farce, nicht grobschlächtig gehalten, sondern schwungvoll hingeworfen mit lockerer Hand, nicht ohne Tiefgang, kongenial in Szene gesetzt von Walter Baumgartner. In der Rolle der Melanie versteht es die junge Schauspielerin Anke Schubert, das spontane Umschlagen der Gefühle von einem Extrem ins andere, von Liebe in Hass mit komödiantischer Bravour temperamentvoll zum Ausdruck zu bringen.

   Ein sehr theatralischer, ein barocker Text; poetische Dramatik, grotesk, burlesk, clownesk, kafkaesk. Bezeichnet der Gestalter sein erstes Hörstück im Untertitel als ‹Porträt einer unmöglichen Freundschaft›, so geht es im neuen um eine schwierige Brautschaft. Sie scheint zum Scheitern verurteilt; doch auch sie führt wie nur allzu häufig in solchen Fällen allen Bedenken zum zwiefachen Jawort. Die von der Mutter des Bräutigams ins Spiel gebrachte, klischeehafte Vorstellung vom Hochzeitstag als dem ‹schönsten Tag des Lebens› wird durch das explosive Verhalten der Brautleute ad absurdum geführt. So sehr sich vor allem die Mutter (Valerie Steinmann), aber auch Melanie, die Braut, um das Zustandekommen der Heirat bemühen, Steff, der Bräutigam (Giovanni Früh), ist und bleibt ein verstockter Bock. Erst als Karl (Peter Kner), der erkorene Trauzeuge, Steff, seinem besten Freund, die Braut kurz vor der Trauung wegzuschnappen droht, macht der Verlobte endlich Schluss mit seinem hinhaltenden Possenspiel, das bereits allen Beteiligten gründlich auf die Nerven geht, willigt er endlich und endgültig ein.

   Ihre Eigenart und besondere Qualität bezieht die Hörgestaltung von der originellen, kunstvollen Dramaturgie her: Das Geschehen wechselt vom Erleben zweier Traumszenen über den Zustand des Wachtraums und Halbschlafs zur Wirklichkeit hinüber. In den Träumen sieht sich Steff, die Hauptfigur; einmal als Anführer, als Held und Erretter auf einem Schiff mit kostbarer Ladung, das andere Mal als schöne Leiche anlässlich seines eigenen Begräbnisses inmitten seiner Lieben, der trauernden Hinterbliebenen. Steffs Gespalten- und Unentschlossenheit, sein ambivalentes Wesen wird dadurch dramaturgisch hervorgekehrt und zur Darstellung gebracht, dass der langsam Erwachende beim monologisierenden Vorsichhinphilosophieren mit drei Zungen redet. Gedankenfetzen stellen sich ein; Erinnerungsbilder tauchen auf, eingeblendet zwischen die Selbstgespräche. So entsinnt er sich unter anderem des Treibens auf dem Rummelplatz, dem metaphorisch als Tummelplatz des Lebens zu begreifenden Jahrmarkt der Eitelkeit.»

 

Heinz Appenzeller; NZN Neue Zürcher Nachrichten, 17. März 1983 / kolorit Nr. 12/66

«Gegen zwanzigmal muss er's hören, sagt er es sich voller Ingrimm mitunter auch selbst: ‹Das ist der schönste Tag deines Lebens!› Die Mutter vor allem ist es, die sein Leben und damit sein Denken und Fühlen fest im Griff hat, sie flötet es ihm vor, zuckersüss und drohend. Und er liegt da am Morgen seines Hochzeitstages im Bett, in und an seinem Kopf die Folgen des Polterabends spürend: ein Sohn, der sich weigert, zum Ehemann zu werden. Für diese Weigerung scheint es allerdings auch einen guten Grund zu geben. Melanie heisst er, ganz genau gleich wie seine Zukünftige. Denn Melanie scheint in der Tat eine fatale Ähnlichkeit mit seiner Mutter aufzuweisen.

   Da liegt er nun also in seinem Bett, den Schädel brummend vor Kater und. Nachdenken. Ein ‹Morgenkonzert› nennt Rainer Bressler sein zweites Hörspiel, das er im Auftrag der Hörspielredaktion von Radio Zürich geschrieben hat. An seinem Erstling, ‹Tom Garner und Jamie Lester›, unter der Regie von Hans Jedlitschka vor zwei Jahren ausgestrahlt, war vor allem die grosse Mühe auffallend gewesen, die der Autor an das gewählt-gepflegte sprachliche Äussere des Textes gewandt hatte, und der merkwürdige Einfall, dieses ziemlich blutleere ‹Porträt einer unmöglichen Freundschaft› in ein vage bleibendes Nordamerika der Vergangenheit zu verlegen. Ähnlich geht es einem vor dieser neuen Produktion.

   Wiederum glaubt man, die Anstrengung zu sehen, mit der hier Satz um Satz gewissenhaft montiert, poliert und mit dem vorhergehenden verschraubt wurde. Am Schluss steht dann die Konstruktion zwar durchaus fertig da, aber man weiss nicht so recht, ob sie nun etwas tragen oder transportieren soll, oder ob etwa der Sinn des Ganzen einfach darin zu liegen habe, diesem nach einer recht simplen Gebrauchsanweisung gefertigten Zusammensetzspiel zuzusehen. Nicht ganz bewältigt scheint in ‹Morgenkonzert› nicht nur die satirisch-burleske Behandlung — die dem Thema, alter Schwanktradition gemäss, entspräche -, sondern auch die explizit psychologisierende Begründung.

   Der Held liegt im Bett und träumt. Von Seeräubern und wildem Kampf, dazu Orchestermusik wie im Hollywoodfilm. Nur als irgendwie erregend will sich diese Szene dem Hörer nicht vermitteln. Ungewiss ist jedoch, ob diese matte Wirkung von Autor und Regie (Walter Baumgartner) beabsichtigt ist, um die schlaffe Entscheidungslosigkeit der Figur von allem Anfang an spürbar werden zu lassen, oder ob die gepützelten Dialoge, die da im Angesicht des Kampfes mit den Piraten gesprochen werden, ‹realistisch› wirken wollen.

   Innere Stimmen, sein anderes Ich, setzen dem Helden zu. Wie tot kommt er sich vor, er erkennt, dass seine Triebe abgestorben sind, ja, dass er ja überhaupt nie irgendwelche Triebe gehabt, auf dieser Welt nie etwas bewirkt hat und nicht weiss, was er will. Doch, jetzt weiss er es: Triebe will er spüren, nicht aufstehen müssen, zurück in seinen Seeräubertraum dürfen, Nur nicht heiraten müssen! Doch da ist, neben Melanie, seiner Braut, ja auch noch die Mutter, die ihm, ungeachtet seines Protests, den obersten Hemdenknopf schliesst und ihm — in bezug auf Krawatten — versichert, dass er schon immer einen schlechten Geschmack gehabt habe. Er verteidigt seinen Widerstand gegen diese Heirat, bis sein Freund und Trauzeuge die Braut will. Da wird Opposition in ihm wach. Musik, Harfenklänge, ihre Stimme, seine Stimme (mit Hall): ‹Ja, ich will!›

  Eine nette Pointe ist dann, wie jetzt die Mutter (Valerie Steinmann) sagt: ‹Das ist der schönste Tag seines Lebens!› Amüsant ist auch die Szene, wo sich Mutter und Braut (eine erfrischende Anke Schubert) über seinen Fall verständigen und sich dabei mit ‹Madame› und ‹Mylady› titulieren. Giovanni Früh ist dort am besten, wo er mit einiger Selbstironie sagen kann: ‹Mama, wir brauchen dich. Sag deinen Satz!›»

 

Christoph Egger; NZZ Neue Zürcher Zeitung, 26./27. März 1983

Tom Garner und Jamie Lester. Porträt einer unmöglichen Freundschaft
1981

«Mit Sorgfalt hat sich Radio DRS des Hörspiel-Erstlings von Rainer Bressler (1945), der bis anhin Kurzgeschichten veröffentlicht hat, angenommen. Nicht nur gab es ihm in der Person von Hans Jedlitschka einen erfahrenen Radio-Regisseur an die Seite, sondern es besetzte auch die einzelnen Rollen dieses Hörspiels mit prominenten Schauspielern wie Ellen Widmann oder etwa Wolfgang Stendar.

   Rainer Bressler berichtet von einer Freundschaft zwischen zwei Männern, der man die Möglichkeit eines Gelingens zum vornherein absprechen möchte, weil ihr sozialer Status, ihr Lebensziel zu verschieden sind. Die Befürchtungen bestätigen sich: Jamie Lester, der ehrliche und ehrgeizlose Handwerker trennt sich von seinem Freund, dem ambitionierten, ja rücksichtslosen Fabrikanten Tom Garner. Er zieht die Lust, seine kleinen Freiheiten in Natürlichkeit wahren zu können, einer prestigesüchtigen Lebensweise vor. Garner selbst wird — in tragischer Engführung — ein Opfer seiner Machenschaft. Statt Freundschaft droht ihm die Isolation, statt familiärer Harmonie bleibt ihm eine zerrüttete Ehe übrig, und zum Suizid seiner Gattin bemerkt Jamie Lester richtig: ‹Du bist ihr Mörder!› So klirren denn nach diesem Hörspiel nur Scherbenhaufen!

   Nicht ganz, denn in der Rahmenhandlung lässt R. Bressler eine andere Stimmung, eine andere Perspektive anklingen. Die Witwe Jamie Lesters, im Alter zur Schlummermutter junger Studenten geworden, besieht sich mit ihrem Schützling eine Sportsendung im Fernsehen, wo ein Nachfahre Garners, Phil Garner, sich vergeblich um Lorbeeren in einem Ausscheidungswettkampf müht. Die beiden Zuschauer, der junge Mann und die alte Frau, machen sich darüber ihre eigenen Gedanken, reden oftmals aneinander vorbei und finden schliesslich doch zueinander in einer unspektakulären Annäherung an echte Lebensziele. Was in der Haupthandlung nicht gelingen wollte, die Gemeinsamkeit trotz der Verschiedenheit, das vollzieht sich hier in schöner Selbstverständlichkeit über die Grenzen des Alters und der unterschiedlichen Erfahrung hinweg.

   Rainer Bressler hat in diesem Hörspiel wichtiges, lebenswichtiges an Einsichten und Folgerungen ins Spiel umgesetzt. Seine Dialoge zeichnen sich durch eine erstaunliche Natürlichkeit aus, und nur hie und da strotzen sie etwas von Lebensweisheit, traben sie gar sentenziös daher; wenn er die alte Frau zum Sprachrohr des besseren Ichs werden lässt. Doch zum Glück nimmt Ellen Widmann dank der ihr angeborenen Natürlichkeit solchen Sätzen wiederum ihre Gedankenschwere, wie denn überhaupt die Schauspieler den Figuren Farbe und Leben geben, allen voran Franziskus Abgottspon als Jamie Lester und Wolfgang Stendar als Tom Garner. Gerade das Freundespaar verfällt schon in der Figurenzeichnung Rainer Bresslers nicht der Schwarzweiss-Malerei, wie man argwöhnen mochte, getreu etwa nach dem Muster: Gutmutiger kleiner Mann in der Rolle des Handwerkers, durchtriebener Schurke als Kapitalist und Fabrikant. Vielmehr eignet den beiden unterschiedlichen Freunden eine differenziertere Reaktionsweise, und vor allem Tom Garners Porträt lässt durchaus auch Widersprüche zu.»

 

Beatrice Eichmann-Leutenegger; Vaterland, Luzern, 23. Februar 1981

«Um eine ‹unmögliche Freundschaft› zwischen zwei allzu verschiedenen Männern geht es im Hörspielerstling von Rainer Bressler. Regie in dem am vergangenen Samstag erstgesendeten, heute zum zweitenmal ausgestrahlten Stück führt Hans Jedlitschka. In den Hauptrollen: Ellen Widmann,Franziskus Abgottspon und Wolfgang Stendar.

   Der 1945 geborene, aus dem Aargau stammende und heute in Zürich lebende Jurist und kantonale Angestellte Rainer Bressler hat bislang noch kaum etwas veröffentlicht. Sein Hörspiel ‹Tom Garner und Jamie Lester› ist also ein echter Erstling. Angesiedelt hat Bressler sein Stück im .‹Land der unbegrenzten Möglichkeiten›, in den. USA - dies, weil er den an sich durchaus auch schweizerischen Stoff nicht auf die Schweiz fixieren wollte und weil das ferne Amerika ein freieres Umgehen mit den Charakteren gestattet: Im Zentrum des Spiels stehen zwei Männer - der erfolgreiche, weil auf Erfolg versessene, skrupellose Unternehmer Garner und der muntere, lebensfrohe Handwerker Jamie Lester. Die beiden, als Schulbuben einst befreundet, treffen sich als Erwachsene und Angehörige verschiedener sozialer Schichten wieder. Die Freundschaft, zunächst neu besiegelt, erweist sich bei den verschiedenen Lebenszielen und Wertvorstellungen der beiden als unmöglich.

   Eingebettet hat Bressler die Geschichte, die im übrigen nicht nur geographisch, sondern, auch zeitlich fern, nämlich im Jahre 1910, spielt, in eine aktuelle Rahmenhandlung. Die alte Witwe Lester schaut sich mit ihrem Untermieter, einem Studenten, am Fernsehen einen Meisterschaftswettkampf an, für das der junge Enkel Tom Garners die Qualifikation geschafft hat. Nicht aufgrund seiner (wie sich herausstellt: mangelhaften) sportlichen Leistungen, sondern aufgrund des familiären Prestiges. Die Garner-Geschichte wiederholt sich in der dritten Generation.

   Bressler hat sein erstes Hörspiele mit seinen verschiedenen räumlichen und zeitlichen Ebenen radiogerecht konzipiert, und er führt seine sehr klar (manchmal fast zu klar) definierten Figuren in handfesten Dialogen ein, die zu Anfang, und gegen das Ende hin noch hätten gerafft werden dürfen. Indes: Eine schillernde Charakterstudie lag offensichtlich nicht in der Absicht des Autors, der vielmehr Gegensätze zeigen wollte. Das gelingt, vorab auch in der prominenten Besetzung, sehr wohl.»

 

Ursula Kägi; Tagesanzeiger, Zürich, 27. Februar 1981

«‹Portrait einer unmöglichen Freundschaft› nennt der 1945 in Windisch AG geborene Autor im Untertitel sein von Hans Jedlitschka realisiertes hördramatisches Erstlingswerk. Es fesselt, unterhält und überzeugt durch die Wahrhaftigkeit seiner gleichnishaften, überzeitlichen Aussage; es beeindruckt durch seine Klar- und Ausgewogenheit sowohl im Blick auf die gewählte Form, die Dramaturgie als auch auf den Inhalt der erzählten Geschichte:

   Episches Theater, sich ergehend auf zwei ineinandergefügten Ebenen an zwei Orten zu zwei Zeiten: die Kunst des Nebeneinanderher- und Aneinandervorbeiredens, Hintergründiges hinter Vordergründigem, Eigentliches hinter Verlogenem, Tatsächliches hinter Fassadenhaftem, Bedeutsames hinter Banalem, Beispielhaftes hinter Einmaligem. Wenn das Ungeheuerliche möglicherweise einherschreitet im Gewande der Unschuld, bleibt die Wahrheit verhüllt und verborgen. Wie im einzelnen sich alles wirklich verhielt, erweist sich häufig als unwesentlich, bleibt offen und der Phantasie anheimgestellt. Tom Garner und Jamie Lester, die beiden idealtypisch gesehenen Titelgestalten von sozial recht verschiedener Abkunft, von diametral entgegengesetzter Charakterveranlagung und Weltanschauung, waren während ihrer Schul- und Jugendzeit miteinander aufgewachsen und befreundet. Nun hatte sie der Zufall nach 20 Jahren wiederum zusammengeführt: Tom, den dritten in der Reihe der reichen, angesehenen Unternehmerdynastie der Garner, ein Mensch von bester Bildung und Erziehung, und Jamie Lester, den Zimmermann, ein auf sein handwerkliches Können zu Recht stolzer Naturbursche. Sein Dasein hatte er auf Lust und Liebe gestellt und auf seine geschickten Hände. Der intellektuelle, berechnende Manager und der heitere, sinnesfreudige Mann aus dem Volke, sie waren sich erneut nahegekommen, hatten die alte Freundschaft erneuert. Sie hatten einander nicht nur viel zu sagen, sondern auch zu geben. Tom deckt Jamie mit Aufträgen ein und erwartet, sich mit seiner Hilfe in der Gegend besser einleben und seine um des guten Rufes willen argwöhnisch überwachte Frau besser bespitzeln zu können. Jenem geht es darum, im Ringen mit der Konkurrenz stets der Beste zu sein, Spitzenleistungen zu erzielen, Image-Pflege zu treiben durch vorbildliche Haltung, Sympathien zu wecken durch Gefällig- und Aufmerksamkeiten. Denn so sichert man sich die grossen Aufträge, schafft man Arbeitsplätze, erzielt man Gewinne. Sein Freund hingegen, ein Mensch von Herz und Gemüt, ist vollauf zufrieden, wenn er sich im Schosse seiner beglückten Familie glücklich weiss und geborgen. Der Fabrikboss verfährt mit den Menschen wie mit den Maschinen: Sie müssen zweckdienlich, angepasst und in Ordnung sein. Sonst werden sie abgeschrieben und weggeworfen. Er wird zum Unmenschen, indem er aus lauter Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein unmenschliche Anforderungen stellt, gleichermassen an sich selbst wie an seine Mitmenschen. Der Gegensatz zwischen den beiden Partnern übersteigt das für eine Freundschaft erträgliche Mass. So ist sie verurteilt zum Scheitern.»

 

Heinz Appenzeller; Aargauer Tagblatt, Aarau, 21. Februar 1981